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Leseempfehlung: Ulf Schiewe – Land im Sturm

Leseempfehlung: Ulf Schiewe – Land im Sturm

Die Menschheit lebt in Völkern. Unter einem Volk versteht man eine größere Gemeinschaft von Menschen, die durch gemeinsame Abstammung, Sprache, Geschichte, Kultur und in der Regel auch durch ein gemeinsames Territorium miteinander verbunden sind. Die Menschen innerhalb eines Volkes sind zumindest genetisch miteinander verwandt. Jeder von uns hat zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern – und so fort. In der zehnten Abstammungsgeneration, etwa um 1700, sind es bereits 1024 Vorfahren, in der 20. um 1400 schon mehr als eine Million. Da aber zugleich die damalige Bevölkerungszahl, je weiter wir zurückgehen, immer geringer wird, ist klar, daß wir alle sehr viele gemeinsame Vorfahren haben.

Hier setzt der vorliegende Roman ein, der knapp 900 Jahre Deutscher Geschichte in fünf einzelnen Erzählungen und im immer wiederkehrenden Aufeinandertreffen von Abkömmlingen der gleichen Familien Revue passieren läßt. Die Akteure erleben Wendepunkte der deutschen Geschichte und werden mit den jeweiligen Herausforderungen ihrer Zeit konfrontiert. Dabei streift das Buch auch die für jedes Volk existenziellen Fragen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin wollen wir?

Die Handlung setzt 955 zur Zeit der Ungarnschlacht auf dem Lechfeld ein, als aus den Stämmen der Franken, Sachsen, Bayern, Schwaben und Lothringer ein gefühltes gemeinsames deutsches Volk hervorging. Aus dieser Zeit stammt übrigens auch das althochdeutsche Wort „diosk“, „dem Volk (diot) eigentümlich“, aus dem das spätere Wort „deutsch“ hervorgegangen ist. Die Helden und Heldinnen des Romans ziehen mit Otto dem Großen bei Augsburg in die Entscheidungsschlacht gegen die Ungarn. Sie wagen sich in der Frühzeit der Hanse mit ihren Schiffen über die Ostsee bis ins Baltikum und nehmen am „Wendenkreuzzug“ gegen die heidnischen Slawen teil. Sie kämpfen im Dreißigjährigen Krieg gegen die eigenen Landsleute und im Befreiungskrieg von 1813 gegen die französischen Besatzer. Sie haben Erfolg. Sie leiden. Und rappeln sich immer wieder auf.

Schließlich mündet der Roman in den Vormärz und die Deutsche Revolution von 1848 ein. Eine Situation, in der die Behörden der deutschen Länder ebenso wie heute schwarze Listen von verdächtigen Patrioten untereinander austauschen. Protagonisten der Erzählung nehmen auch an den Barrikadenkämpfen des 18. März 1848 in Berlin teil: „Studenten und Bürgersöhne Seite an Seite mit einfachen Arbeitern. Welten voneinander getrennt in normalen Zeiten. Aber hier und jetzt waren sie Kameraden, schwenkten ihre Fahnen und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern, wenn sie einen Angriff abgewehrt hatten.“

Der Verfasser des Romans scheint aber ein vorsichtiger Mann zu sein, denn er nähert sich der Gegenwart nicht weiter als bis 1848 und vermeidet so, sich die Finger an aktuelleren, noch tagespolitisch behafteten Themen zu verbrennen. Das Buch enthält zudem zahlreiche zeitgeistbedingte Schwachstellen, aber vielleicht kann man heute nur so eine größere Leserschaft für ein Thema wie dieses erreichen. Auch die zahlreichen historischen Details sind nicht immer zutreffend.

Es wäre schon interessant, wie die Nachfahren der Protagonisten des Romans die Kämpfe und Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts erlebt und wie sie die deutsche Teilung überstanden hätten. Vor allem aber wie sie sich in der heutigen Situation, in der größte Herausforderungen für unser Volk von vielen Zeitgenossen einfach weggelächelt werden, positionieren würden.

Der Roman bleibt aber trotz der angesprochenen Schwächen eine empfehlenswerte und unterhaltsame Lektüre.

Herbert Herrmann